Die soziale Frage

Die wahren Probleme im Land werden verschleiert oder ignoriert.

von Susan Bonath

Foto: MIA Studio/Shutterstock.com

Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in arm und reich hat die soziale Frage auf die politische Tagesordnung geworfen. Sie manifestiert sich in der Flüchtlingskrise, spaltet die Linke und bringt der Rechten Zulauf. Die Linkspartei ist daran nicht unschuldig, denn sie ignoriert die Klassenfrage.

Die Linkspartei scheint dieser Tage zerstrittener denn je. Es geht um Flüchtlinge und staatliche Grenzen. Der Streit polarisiert sich zwischen zwei Flügeln: Die einen sammeln sich um Parteichefin Katja Kipping. Sie fordern offene Grenzen. Zugleich scheinen sie die realen Probleme zu ignorieren, die die Aufnahme von Hunderttausenden Menschen für die unteren Schichten in Deutschland mit sich bringt: Der Konkurrenzkampf um bezahlbaren Wohnraum und Jobs verschärft sich, die Konflikte in sozialen Brennpunkten nehmen zu.

Andere Parteimitglieder scharen sich um das „Team Sahra“ von Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht. Sie und ihr Mann Oskar Lafontaine betonen zwar, das Asylrecht nicht weiter aufweichen zu wollen. Deutschland dürfe aber nur tatsächlich asylberechtigte Flüchtlinge aufnehmen. Das sind einzig politisch Verfolgte. In der Konsequenz hieße das: Grenzen dicht und abschieben, wer das Kriterium nicht erfüllt.

Reformistische Flügelkämpfe

Beide Flügel führen die soziale Frage an. Erstere betonen, man müsse jedem die Grundbedürfnisse sicherstellen, dürfe niemanden ausgrenzen. Es sei unmenschlich, Männer, Frauen und Kinder in von Krisen und Kriegen zerrüttete Gebiete oder anderweitig ins Elend zurückzuschicken.

So recht sie damit haben, so real ist es dennoch, dass die deutsche Politik diese Ausgrenzung seit langem praktiziert. Betroffen sind Einheimische und Flüchtlinge. Erinnert sei an das repressive Hartz-IV-System aber auch an abgeschottete Erstaufnahmeeinrichtungen und Massenunterkünfte für Asylbewerber.

Zur Erinnerung: Das repressive Hartz-IV-System führte die Bundesrepublik im Jahr 2005 ein – lange vor der Flüchtlingskrise –, um die Industrienation mittels eines riesigen Niedriglohnsektors wettbewerbsfähig zu halten. Das räumte die damalige Bundesregierung unter Altkanzler Gerhard Schröder unumwunden ein.

Offene Grenzen seien utopisch, meint der Flügel um Wagenknecht und Lafontaine. Die massenhafte Aufnahme von Geflüchteten verschärfe die sozialen Bedingungen für die einheimischen unteren Schichten. Man betont: Den Betroffenen müsse vor Ort geholfen werden.

So recht auch sie haben, so real ist es, dass in den Krisengebieten kaum Hilfe ankommt. Die Bewohner der meisten Herkunftsländer leiden seit Jahrhunderten unter kolonialer und neokolonialer Ausplünderung durch die Industriestaaten. Die Folgen: Extreme Ausbeutung, Kriege, Dürren, staatliche Auflösungserscheinungen und von Warlords und Oligarchen bezahlte marodierende Banden, die um Einfluss und Macht ringen. Und die Bundesregierung lässt Rüstungsproduzenten und Waffenlieferanten weiter gewähren.

Kurz: Die Hilfe existiert nicht. Wer Macht im Staat nicht innehat, kann sie nicht gewährleisten. Dass die Betroffenen sich eines Tages auf den Weg machen, um den Warenströmen zu folgen, war abzusehen.

Wagenknecht und die Neue Rechte

Die Zerwürfnisse in der Linken freuen die Neue Rechte. Deren wortführendes Organ „Sezession“, herausgegeben von deren intellektueller Denkfabrik „Institut für Staatspolitik“ (IfS) und dem darin integrierten Antaios-Verlag, dockt daran an.

„Wagenknecht, die soziale Frage und wir“, titelte am 18. Juni 2018 der Autor Benedikt Kaiser. Er spricht die Klientel um Björn Höcke (AfD), die Identitäre Bewegung (IB) und diverse rechtsradikale Kleinparteien und Kameradschaften an, die im IfS ein- und ausgehen. Diese Neue Rechte, so heißt es, müsse noch stärker eine stramm „sozialpatriotische Programmatik“ verfolgen.

Der Autor freut sich über Zersplitterung und Konzeptlosigkeit in der Linken. Deren Richtungskämpfe seien eine „direkte Bestätigung für den eigenen Erfolg im Bereich einer sozialen Neujustierung innerhalb der Rechten“, blickt er voraus und lobt Wagenknecht. So habe die Linksfraktionschefin „in den letzten Jahren eine Entwicklung genommen, im Zuge derer sich Positionen aus ihrem Umfeld und dem unsrigen annähern“.

Es geht nicht darum, Linken rechte Gesinnungen zu unterstellen. Doch das Lob vom Feind sollte hellhörig machen.

Fixiert auf den Staat

Tatsächlich ist den Akteuren um Wagenknecht und der Neuen Rechten eins gemein: Sie haben das bedrängte deutschstämmige Proletariat entdeckt. Sie predigen nationale Lösungen durch einen starken Staat, das vor dem seinerseits bedrängten einwandernden Proletariat – mehr oder weniger – geschützt werden müsse.

Laut Sezession-Artikel solle die Neue Rechte noch stärker „rückgebunden an Tradition und Herkunft die aktuelle Lage des Finanzmarktkapitalismus analysieren“. Insbesondere die AfD müsse sich „sozial-programmatisch selbst optimieren“. In anderen Artikeln des Blattes wird immer wieder nach Aufrüstung der Polizei „zum Schutz der angestammten Bevölkerung“ und „guten Arbeitsplätzen für Deutsche“ gerufen.

In einem im Mai bekannt gewordenen Papier zur von Wagenknecht geplanten Sammlungs-Bewegung klingt das so: Der Staat solle „gute Löhne und sichere Arbeitsplätze“ im Sinne einer „innovativen Wirtschaft und des deutschen Binnenmarktes“ schaffen. Er müsse den Sozialstaat ausbauen, gerechte Steuerpolitik betreiben, Polizei und Justiz besser ausstatten. Es gelte, „die Übermacht von Konzernen und Banken“ zu „überwinden“.

System-Management

Fixiert auf den kapitalistischen Staat ist aber auch der andere Flügel der Linkspartei, der derzeit gegen Wagenknecht zu Felde zieht. Bei den sozialen Verbesserungswünschen ist man sich zwar einig. Auch das Wie – nämlich mittels sozialdemokratischer Reformen – ist nicht der Knackpunkt. Es ist die Moral: Darf man die einen Armen gegenüber den anderen Armen benachteiligen?

Die moralistische Ausrichtung hat allerdings zur Folge, dass die ökonomischen Gesamtbedingungen noch weniger berücksichtigt werden. Die Auswirkungen bleiben den unteren Schichten aufgebürdet, die kapitalistische Wirklichkeit weitgehend ausgeblendet. Moralische Appelle zerschellen an der Realität. In dieser sind eine Million Menschen obdachlos, konkurrieren neun Millionen im Niedriglohnsektor, sind acht Millionen auf Grundsicherungsleistungen angewiesen und sind Massen künftiger Rentner von Armut bedroht.

Bei allem Reformismus scheint der Wagenknecht-Flügel zumindest begriffen zu haben, dass gut gemeinte, aber meist im leeren Raum verpuffende Oppositionsarbeit in Parlamenten nicht allein Schlüssel zu Veränderungen sein kann. Dennoch kommen beide Seiten nicht über einen Punkt hinaus:

Sie stellen die Systemfrage nicht. Im Gegenteil: Jeder bietet sich auf seine Weise an, dem Staat beim Management desselben behilflich zu ein. Kommen nationalstaatlich ausgerichtete Lösungsvorschläge hinzu, verschwimmen für den Laien die Unterschiede zwischen rechts und links.

Analyse von links fehlt

Die Linke beschäftigt eigentlich seit jeher eine Frage: Wer oder was ist der kapitalistische Staat? Der Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung aus dem vergangenen Jahr bringt es gut auf den Punkt. Aus dessen unzensierter Ausführung geht hervor: Das reichste eine Prozent der deutschen Bevölkerung bestimmt im Gros, was in Gesetzesblättern steht. Anliegen der Unter- und Mittelschicht bleiben ungehört. Einst hätte das nicht einmal die SPD verwundert. Man wusste: Der Staat ist ein Instrument der herrschenden Klasse.

Die Rolle kapitalistischer Staaten gehörte zum linken Grundwissen:

Sie managen das Wirtschaftssystem zugunsten der profitierenden Unternehmer und Kapitaleigner. Sozialleistungen zahlen sie nur, um keine Aufstände zu provozieren.

Gesetze im demokratischen Konstrukt gelten vorgeblich für alle. Doch klar war:

Vor dem Gesetz sind alle gleich, aber Reiche sind gleicher. Kurz: Der Staat betreibt Klassenpolitik im Interesse derer, die er vertritt.

Kaum ein Sozialist oder Kommunist wäre auf die Idee gekommen, den Parlamentarismus als einziges Spielfeld zu begreifen. Doch spätestens nach dem zweiten Weltkrieg versank die SPD im Reformismus. Seither setzt sie auf das, was lange undenkbar war: Sozialpartnerschaft mit den Herrschenden. Die linke Klassenanalyse verschwand im Nirvana. Der kapitalistische Staat wurde zum Verhandlungspartner.

In Zeiten des Wiederaufbaus und daraus folgenden Wirtschaftsbooms, in denen den Kapitaleignern und ihren politischen Protagonisten Zugeständnisse abzuringen waren, mochte das sinnvoll erschienen sein. In Zeiten der Zuspitzung der globalen spätkapitalistischen Krise lässt die fehlende Klassenanalyse linke Politik zur reinen Symbolpolitik verkommen. Auch der einfache Arbeiter ahnt: Sie ist zum Scheitern verurteilt.

Linke muss Systemfrage stellen

Im Hinblick auf Ursache und Wirkung muss eine Linke in diesen Tagen weiter denken als an offene oder geschlossene Grenzen, die ohnehin nie im Interesse der einfachen Menschen existierten, und als an die eine oder andere sozialpolitische Reform. Wenn die Ressourcen im Süden zur Neige gehen, Anbauflächen veröden, werden nicht nur die Flüchtlingsströme wachsen. Auch die Supermärkte in den imperialistischen Zentren werden eines Tages leerer.

Doch eine nachhaltige Ökologie, ein schonender Umgang mit den Ressourcen und ein friedliches Zusammenleben der Völker bedürfen einer anderen Wirtschaftsform, einer zentral geplanten Wirtschaft, die das nötige Investitionsvolumen für derartige Projekte bereitstellen kann. Dies kann nur gelingen, wenn nicht nach Profit, sondern nach Vernunft investiert wird.

Dazu müsste das Wertgesetz, der Markt, in weiten Teilen des globalen Wirtschaftskreislaufs außer Kraft gesetzt werden. Wer das will, braucht die Macht. Innerhalb des weltweiten Systems des Großkapitals, das die Staaten als seine Machtinstrumente besitzt, wird kein noch so williger Politiker handlungsfähig sein.

Griechenland ist nur ein Beispiel und der Beweis dafür: Eine andere Wirtschaftsweise per Parlamentsbeschluss wird es nicht geben. Ein Umsturz der bestehenden Ordnung, das Brechen der Macht der Monopole, ist dafür unumgänglich.

Ausweg: Klassenpolitik

Die heutige globale Ist-Situation bedroht das Überleben der gesamten Menschheit. Elend in der Peripherie hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Zentren. Den Erfordernissen für eine Umkehr vom Marsch in den Abgrund wird niemand gerecht, der am Ende das bestehende Wirtschaftssystem verteidigt.

Wer aber die ökonomische Ursache der globalen Ist-Situation ignoriert, sollte auch deutlich machen, dass bei einem „Weiter so“ ein immer größerer Teil der Erde nicht mehr bewohnbar sein wird. Er sollte zugeben, dass die Herrschenden eben nicht vorhaben, den Opfern vor Ort ausreichend zu helfen. Und dass nicht helfen kann, wer nicht die politische Macht hat. Was also wird mit den dort lebenden Menschen geschehen?

Das langfristige Ziel einer progressiven Linken kann daher nur eine globale wirtschaftliche und soziale Revolution sein. Dieses dürfte sie auch im Rahmen partieller Kämpfe nicht aus den Augen verlieren. Dafür muss sie die Klassen- und Machtfrage stellen, und dies international. Das schließt auch ein, jegliche Gewalt innerhalb der unterdrückten Schichten aller Nationen zu ächten und kein Stück weit zu tolerieren.

Diese überlebenswichtigen Fragen beantwortet die Linke aktuell nicht. Ihr Streit über offene oder geschlossene Grenzen im Zusammenhang mit der sozialen Frage birgt daher nicht nur menschenfeindliche Antworten, wie sie auch die Neue Rechte bringt.

Er spaltet und entsolidarisiert die unterdrückten Schichten immer stärker und verkommt angesichts der Realität letztendlich zur bloßen Farce.

Susan Bonath

Susan Bonath, geboren in der DDR, arbeitet seit 12 Jahren als freie Journalistin und berichtet seit 2010 für die junge Welt. Arbeitsschwerpunkte unter anderem „Arbeit und Soziales“. Seit 2015 schreibt sie auch für KenFM. Sie lebt in Sachsen-Anhalt.

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